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Giannis Kokkinidis: Meine Kindheit auf Karpathos

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2023-11-11 2023-11-11 11.11.2023

Giannis Kokkinidis wurde am 15. Oktober 1901 in Othos auf der Dodekanes-Insel Karpathos geboren. Im September 1918 ging er nach Athen und am 13. Dezember 1920 wanderte er nach Amerika aus. Er studierte an der Columbia University in New York Architektur und arbeitete erfolgreich als Architekt in Amerika. 2003 starb Kokkinidis in Palm Beach, Florida. Im folgenden Beitrag schildert er seine Kindheitsjahre auf Karpathos zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Übersetzung aus dem Griechischen: Markus List

Das Haus

 

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Othos Karpathos

Unser Haus, das aus Steinen und Lehm gebaut und mit Kalk getüncht war, war wohl mehr als hundert Jahre alt. Es hatte keine Schränke, nur eine Truhe, in der wir unsere Kleider aufbewahrten. Es gab kein fließendes Wasser im Haus. In Tonkrügen holten wir Wasser aus der einzigen Quelle im Dorf, unterhalb der Kirche. Es gab weder eine Abwasserleitung noch eine Außentoilette, es genügte irgendein Ort, der vor den Augen der Leute verborgen war.
Das „große Haus“ hatte eine Tür mit zwei kleinen Fenstern und der Fußboden war bedeckt mit feinen Kieselsteinen, die mit Gips vermischt waren. Die Schlafmatratzen waren auf dem Soufás, der Schlafempore, ausgebreitet, oberhalb von dem Apokríato [Raum unter dem Soufás], der als Lagerraum diente. Der Fußboden des „kleinen Hauses“ war aus Lehm gemacht und mit einer grünlichen Mischung bedeckt, die aus Kuhdung hergestellt wurde. Meine Großmutter sagte oft, dass sie „gesund war und gut roch“.
Es gab auch einen Stall für die Tiere (vier Schafe, eine Ziege, ein oder zwei Esel, ein Schwein, einige Hühner) und Platz für das Stroh, das Tierfutter. Im Stall bauten sich die Hühner ihre Nester, in die sie die Eier legten. Neben dem Platz, an dem die Tiere untergebracht waren, hatten wir einen Backofen, in dem wir jeden Samstag die Brote backten. An einem Rand des Backofens gab es eine kleine Vertiefung, wo die Asche gesammelt wurde. Einmal im Monat schob mich meine Mutter in den Backofen, damit ich die Asche für die Wäsche einsammelte. Auf der Insel gab es keine Elektrizität, nur Petroleumlampen und Kerzen aus örtlichem Bienenwachs.

Die Schule

 

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Othos Karpathos

Die Dorfschule ging bis zur vierten Klasse, manchmal bis zur siebten. Die ersten vier Klassen hatten einen Lehrer in einem gesonderten Raum. Der Lehrer (eine Lehrerin hatten wir nie) wurde von den Eltern der Schüler bezahlt. In der Schule gab es kein Wasser, keine Toiletten, keinen Turnraum, keine Bücher und keine Schulmaterialien. Zur Beleuchtung hatte sie ein Fenster, damit das Tageslicht hereinschien. Jeder Schüler kaufte die Bücher, die Hefte, die Federn, die Bleistifte und manchmal auch die Kreide. Es gab einen Tisch und einen Stuhl für den Lehrer, Hocker für die Kinder und eine Wandtafel. An den Wänden gab es einige Bilder aus der Bibel.
Der Lehrer hatte die absolute Gewalt in der Klasse und der Gehorsam stand nicht zur Debatte: keiner im Dorf bezweifelte seine Rechte beim Unterricht. Der sonntägliche Kirchgang für groß und klein wurde als notwendig angesehen. Der einzige Pfarrer, den ich gekannt habe, war Papa-Stavrákis, der auch der Schuhmacher im Dorf war. Sobald ich zu lesen angefangen hatte, erfuhr ich auch, wann ich geboren war. Im Inneren des Truhendeckels und unter dem Geburtsdatum meiner Schwester hatte mein Vater geschrieben: „Heute, Dienstag, 7:00 Uhr abends, 15. Oktober 1901 (Julianischer Kalender), wurde mein Sohn Ioannis zu guter und gesegneter Stunde geboren“.

Die Familie

 

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Othos Karpathos

Wie es seit jeher Sitte war, reisten im Frühjahr die Bauarbeiter und Tischler der Insel ab und kehrten im Oktober zurück. Zusammen mit ihren älteren Söhnen und anderen Verwandten gingen sie nach Aidini und in andere Gebiete der Türkei zum Arbeiten, um sich ein zusätzliches Einkommen zu sichern, um ihr Auskommen zu haben. Sobald es anfing zu regnen, kehrten sie auf die Insel zurück, um ihre Felder zu bestellen und den Winter zu verbringen. Dasselbe machte auch mein Vater, aber in diesem Jahr reiste er sofort nach Ostern nach Ägypten ab. Ich war gerade fünf Monate alt, es war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, und danach kannte ich ihn nicht mehr, nicht mal vom Foto. Er hat Karpathos verbittert verlassen, wegen einer Erbstreitigkeit, die er mit seinem Bruder hatte.
Giannis, der Vater meiner Mutter, wurde schon früh Waise und seine Tante, Frangouliá, zog ihn groß; sie hatte ein großes Vermögen an Grundbesitz geerbt und war hoch angesehen im Dorf, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang Weberin geblieben ist. Frangouliá legte großen Wert auf die Bildung ihres Neffen (meines Großvaters). Durch ihre Bemühungen wurde er zum Bürgermeister des Dorfs gewählt und in jungen Jahren als Sekretär beim Bischof angestellt. Er heiratete meine Großmutter Erniá und sie bekamen in ihrer Ehe drei Kinder, Anna, Giórgos und meine Mutter Frangouliá, die jüngste. Im Alter von 26 Jahren, als er noch Bürgermeister in Othos war und mit seinen Freunden im Kafenion saß, schoss ein Gestörter auf ihn und verletzte ihn am Arm.
Auf der Insel gab es keinen Arzt, und bis dieser von Kasos herüberkam, bekam er Wundbrand und starb und hinterließ drei kleine Waisenkinder. Erniá, meine Großmutter, packte die Probleme an so gut sie konnte. Sie verheiratete meine Tante Anna im Alter von 12 Jahren, genauso auch meine Mutter, die sie jemandem aus guter Familie gab, der aber doppelt so alt war wie sie. Nach noch nicht einmal einem Jahr kam der Mann meiner Mutter bei einem Unglück beim Fischen ums Leben. Sobald die Witwe 15 Jahre war, wurde sie mit Minás, meinem Vater verheiratet, der 12 Jahre älter als sie war.

Schwierige Jahre

Meine Mutter, meine Schwester, Großmutter Erniá und meine Urgroßmutter hatten keinerlei finanzielle Annehmlichkeiten. Das wenige Öl von unseren Olivenbäumen, etwa 800 Liter, der Wein von unseren Weinbergen und das wenige Getreide von der Vermietung unserer Felder war nicht genug zum Leben, so sehr wir auch gespart haben. Unsere Ernährung bestand aus Fleisch achtmal im Jahr und Fisch viermal. Sehr selten Eier, außer an Ostern, und Milch von Februar bis Mai. Wir ernährten uns hauptsächlich von Wildgemüse, Hülsenfrüchten und Kartoffeln. Wir hatten ausreichend Rosinen und getrocknete Feigen und im Sommer Früchte. Für meine schulischen Ausgaben und die importierten Waren wie Reis, Zucker, Kaffee, Mehl und Stoffe (Tante Anna war eine gute Schneiderin) verschuldeten wir uns bei Solomon (ein jüdischer Händler, der mit seiner Frau Rebekka einen Laden im Dorf hatte) und setzten das Vermögen meines Vaters als Pfand ein. Viele Male sah ich meine Mutter weinen, besonders wenn die Zeit kam, meine Schule zu bezahlen. Ich wurde unter Frauen groß – meiner Mutter, meiner Tante, meiner Großmutter und meiner Schwester. Ich spürte die große Liebe, die sie für mich empfanden und niemals in meinem Leben hörte meine Dankbarkeit und meine Liebe für sie auf. Das Gefühl für Ehre und Würde, das ich erwarb, verdanke ich meiner Mutter und Tante Anna. Auch meine Werte für das Leben und die Menschen haben sie geformt. Immer habe ich ihre Anwesenheit in meiner Nähe gespürt, auch jetzt sind sie in meinem Gedanken.
Als ich 12 Jahre alt wurde, heiratete meine Schwester, und entsprechend der örtlichen Sitte musste sie das ganze Vermögen meiner Mutter bekommen, auch das Haus, in dem wir wohnten. Von jenem Tag an beschränkten sich meine Mutter, meine Großmutter und ich auf einen Teil des Hauses und unser Leben wurde noch schwieriger.

In der Schule

 

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Othos Karpathos

Die ersten sieben Jahre bin ich in die Schule in meinem Dorf gegangen und ich hatte jedes Jahr einen anderen Lehrer. Fast immer war ich unter den drei besten. (Aristotelis Stavrakis war immer der Beste). Sonntags, in der Kirche, habe ich dem Kirchensänger geholfen, ich habe das Glaubensbekenntnis gesprochen und häufig das Apostelbuch gelesen. Grund für mein Interesse an Büchern war ein Blinder, der Bücher gekauft hat, hauptsächlich Romane, und sie zu uns ins Haus gebracht hat, damit sie ihm meine Schwester vorliest. Wir saßen um den Ofen herum und verfolgten mit großem Interesse die Entwicklung der Geschichte. Am nächsten Tag, wenn die anderen schliefen, las ich die Fortsetzung von da an, wo meine Schwester aufgehört hatte. Meine Mutter mochte das nicht, weil sie Angst hatte, das könnte meine Prinzipien beeinflussen. Eines der Bücher, die ich gelesen habe, als ich erst zehn Jahre alt war, war „Die Elenden“ von Victor Hugo.
An den meisten Tagen außer den Sonntagen, den Feiertagen und den kalten Tagen im Winter war ich, wie alle Kinder im Dorf, barfuß. Wenn wir auf einen Besuch in die umliegenden Dörfer gingen, hielt ich meine Schuhe in der Hand und zog sie erst an, wenn wir in der Nähe des Hauses ankamen, das wir besuchen wollten. Auf dem Rückweg passierte das Gegenteil. Als ich in die achte Klasse kam, musste ich nach Aperi gehen, fünf Kilometer von Othos entfernt. Wir legten die Strecke zusammen mit zwei anderen Jungen zurück, bei Regen oder Sonnenschein. Meine Mutter steckte mir eine Scheibe Brot und eine Tasse mit einem Spiegelei, das im Öl schwamm, in ein Körbchen, das war mein Mittagessen. Manchmal gab sie mir einen Fünfer, damit ich einige Sardellen vom Dorfkrämer kaufte. Eine Scheibe Brot und kaltes Wasser von der Dorfquelle ergänzte mein Mittagessen.
In der Mittagspause nahmen wir unsere Körbchen und gingen hinter das Allerheiligste der Kirche, die neben der Schule war, um unser Essen einzunehmen. Bis es Mittag wurde, ließen wir die Körbchen auf dem Fensterbrett. Das hinderte die Ameisen, die unser Essen probieren wollten, nicht daran, dahinzugelangen, mit dem Ergebnis, dass zehn von ihnen in das Öl fielen und ertranken. Es gab keine andere Möglichkeit, als dass auch das Teil meines Essens wurde. Zum Glück hat es meiner Gesundheit nicht geschadet, vielleicht hat es ihr sogar genützt.

Der Krieg kommt

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Musiker, Johannesfest Karpathos

Im Sommer 1915 führte der Erste Weltkrieg, der sich inzwischen auch im östlichen Mittelmeer ausgebreitet hatte, zur Schließung der Schulen auf der Insel. Einige Eltern stellten einen Jurastudenten – Flüchtling aus der Türkei – an, damit er die Kinder unterrichtete und sie sich nicht unnütz auf den Straßen herumtrieben. Der Lehrer war ein angenehmer Mensch, der auch gut Tsambouna [Dudelsack] spielte. (Viele Male genoss das Dorf ihre Melodie in der Stille der mondbeschienenen Nacht). Jeder Schüler musste in die Schule auch seinen Hocker mitbringen. Der junge Lehrer hängte in seiner Unterkunft einen leeren Ölkanister auf, an dem er auf der Unterseite einen Ausguss anbrachte, damit er duschen konnte. Jeder von uns holte der Reihe nach jedesmal, wenn der Lehrer ein Bad nehmen wollte, Wasser von der Quelle, um den Kanister aufzufüllen.
Von Mai 1916 bis Oktober 1918 bin ich nicht zur Schule gegangen. Ich verbrachte meine Zeit damit, den Garten und unsere Weinfelder umzugraben und zu bestellen und unsere Haustiere zu versorgen. Ich lernte, die Ziege und die Schafe zu melken und auf den Eseln mit oder ohne Sattel zu reiten. In der Erntezeit des Jahres half ich beim Ernten und Keltern der Trauben. Wir hatten wirklich Trauben und Feigen von außerordentlicher Qualität.
Das Erscheinen deutscher U-Boote im östlichen Mittelmeer führte zum Mangel an Nahrungsmitteln und an anderen notwendigen Gütern. Der Kesselflicker des Dorfs beschloss, um das Nötigste für seine Familie zu erwirtschaften, nach Afiartis zu gehen, wo die Hirten zum Kochen ihrer Milch Bronzekessel verwendeten, die alle zwei, drei Jahre verzinnt werden mussten.
Als ich 15 Jahre alt war, nahm er mich mit, damit ich das Innere der Kessel abreiben und putzen konnte. Ich nahm sie in das Bachbett eines ausgetrockneten Bachs und rieb sie mit den Händen und Füßen mit feinen Kieselsteinen, Sand und Wasser, um sie für den Kesselflicker vorzubereiten. Die Hirten gewährten uns in ihren Ställen ein Dach über dem Kopf. Wir schliefen auf dem Erdboden auf einer Strohlage mit einer Decke zum Zudecken. Das einzige Essen, das sie uns gaben, war heiße Milch mit etwas Salz und Schwarzbrot dreimal am Tag. Jede Woche blieben wir drei, vier Tage in Afiartis, bevor wir ins Dorf zurückkehrten. Als Bezahlung gaben die Hirten dem Kesselflicker Getreide und Käse für seine Familie. Ich habe nie erfahren, was mein Lohn war, denn das regelte meine Mutter mit meinem Arbeitgeber.

Tauschhandel

 

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Othos Karpathos

Später im gleichen Jahr gingen meine Mutter und ich mit zwei Eseln nach Afiartis, um uns mit ein, zwei uns bekannten Hirten zu treffen. Wir nahmen drei, vier Blechkanister Öl mit, um es gegen Trachanas [Hartweizengrieß] und Käse einzutauschen. Spät am Abend, sobald die Hirten den Trachanas zubereitet hatten, brach ich mit dem älteren Esel von Afiartis aus auf in das Dorf. Die Wegstrecke würde fünf Stunden dauern und ich würde in Othos ankommen, wenn alle schon schliefen, so dass niemand mich und meine wertvolle Ladung sehen würde. Meine Mutter würde am nächsten Tag mit dem anderen Esel nachkommen.
Der Fußpfad war schmal und gewunden, führte über abschüssige Berge und ich musste aufpassen, besonders bei Nacht. Zum Glück war Vollmond. Am Berggipfel blieb der Esel stehen und weigerte sich weiterzugehen, weil er die Hitze von dem noch heißen Trachanas nicht aushielt. In meiner Verzweiflung lud ich mir den Trachanas auf und erst dann setzte sich der Esel wieder in Bewegung. Sobald wir wieder auf ebenen Weg kamen, lud ich den Trachanas wieder auf den Esel und irgendwann nach Mitternacht kamen wir im Dorf an. Es herrschte Stille, alle schliefen, außer meiner Schwester, die wachgeblieben war und auf mich wartete. Ohne Zeit zu verlieren luden wir den Esel ab. Unsere erste Arbeit war, den Sack mit dem Trachanas unter einen Olivenbaum zu bringen. Ich grub eine tiefe Grube, bedeckte den Sack mit Sackleinwand und vergrub ihn. Nach zwei Tagen war meine Schwester der Meinung, dass keine Gefahr mehr bestand, dass die Nachbarschaft etwas mitbekäme. Wir gruben den Trachanas aus und brachten ihn ins Haus. Mit solchen Anstrengungen und Methoden versuchten wir zu überleben.
Die finanzielle Situation meiner Mutter erlaubte es nicht, die Schule auf dem Gymnasium in Rhodos fortzusetzen. Als nun meine früheren Mitschüler im Sommer von Rhodos zurückkamen, gut gekleidet mit Hemd, Krawatte und Hut, wurden sie als Stammgäste im Dorfkafenion akzeptiert. Ich dagegen, barfuß und einfach angezogen, hatte nicht den Vorzug, akzeptiert zu werden. Es war die größte Erniedrigung, die ich in meinem Leben verspürt habe. Sechs Jahre später, als ich an der Columbia University in New York aufgenommen wurde, überwand ich das Gefühl der Bitternis und der Erniedrigung, das ich damals gespürt hatte.

Medizinische Hausmittel

Meine Großmutter kümmerte sich besonders um meine Gesundheit, weil meine Mandeln häufig anschwollen. In diesen Fällen holte sie Stamatoula zuhilfe, eine alte Nachbarin, die in schwierigen Fällen den Frauen im Dorf bei der Geburt beistand. Sie hatte sich einen Ruf bei der Heilung kleiner Verletzungen und insbesondere bei geschwollenen Mandeln erworben. Diese hatte in einem Knoten am Rand ihres Kopftuchs immer feingestampfte Kohle vermischt mit pulverisiertem Alaun. Jedes Mal, wenn meine Mandeln anschwollen, öffnete Stamatoula den Knoten des Kopftuches, bis sein Inhalt sichtbar wurde, befeuchtete ihren Zeigefinger mit Spucke und legte ihn auf das Gemisch. Gleichzeitig wies sie mich an, meinen Mund weit aufzumachen und steckte mit wohlüberlegter Bewegung ihren Finger tief in meinem Mund und rieb meine geschwollenen Mandeln kräftig ein. Nach zwei Tagen hatten die Mandeln ihre ursprüngliche Form wieder erreicht.
Im Winter litt ich, als ich klein war, außer an meinen Mandeln auch an Schnupfen. In diesen Fällen war meine Großmutter immer bereit, mir ihre Hilfe zukommen zu lassen. Mit der Feuerzange nahm sie aus dem Ofen einige brennende Kohlen, legte sie auf einen Suppenlöffel und nahm vom Ort der Ikonen einige Olivenblätter und Palmzweige vom Palmsonntag und legte sie auf die rotglühenden Kohlen. Sobald sie zu brennen anfingen und einen beißenden Rauch von sich gaben, befahl sie mir, meinen Kopf zu senken, während sie mit dem Löffel unter meiner Nase herumkreiste und gleichzeitig einige unverständliche Worte murmelte. Jeden Augenblick unterbrach sie, um nach links und rechts zu spucken und beschwor die Versuchung, von mir abzulassen. Nach einigen solchen Zelebrierungen warf sie die Kohlen in einen Sack mit kaltem Wasser und lauschte aufmerksam auf das Pfeifen, das sie beim Erlöschen von sich gaben, weil genau dieses Pfeifen der Beweis war, dass die bösen Geister von mir gegangen waren, und für einige Tage hörte mein Rotz auf herunterzulaufen.
Bei den Ikonen befand sich außer den Palmzweigen und den Olivenblättern auch ein kleines Fläschchen, gefüllt mit einem breiigen Gemisch, das sie selbst aus Öl und Maus zubereitet hatte, genauer gesagt, aus dem Körper einer neugeborenen Maus, die noch keine Haare hatte. Wenn jemand von uns eine blutende Wunde hatte oder Frostbeulen, gab die Großmutter mit einem Stück Watte etwas von dem Gemisch auf die Wunde, die schnell verheilte. Großmutter war absolut sicher über die heilenden Eigenschaften ihres Wunder wirkenden Arzneimittels und kümmerte sich, sobald es zu Ende ging, darum, es mit einem anderen neugeborenen Mäuschen und etwas Öl wieder herzustellen. Viele Jahre später, als ich einem Arzt in Amerika davon erzählte, meinte er zu mir, dass dieses Gemisch vielleicht wie ein primitives Penicillin gewirkt habe.

Quelle:
https://www.anamniseis.net/i-karpathos-stis-arhes-tou-perasmenou-eona-mesa-apo-ta-matia-enos-paidiou/